Escissia

Ruckartig fuhr das schwarzhaarige Mädchen aus dem Schlaf, als lautes Gekreisch an ihre Ohren drang. Stöhnend drehte sie sich um und versuchte wieder einzuschlafen, doch der Lärm von draußen hinderte sie daran. Verärgert richtete sie sich auf und öffnete das Fenster neben ihrem Bett. Frische Morgenluft strömte ihr entgegen und die Strahlen der aufgehenden Sonne verwandelten das riesige Beerenfeld, das sich vor ihr erstreckte, in ein malerisches Bild, wie man es auf Postkarten hätte drucken können – wenn da nicht die Schar Dartiri und der Schwarm Taubsi gewesen wären die sich lärmend umringten. Ständig rivalisierten sich diese Pokemon, meist jedoch waren sie anständig genug, dies Mittags zu tun statt alle aus dem Schlaf zu reißen. Ein Taubis flog haarscharf an Amelies Gesicht vorbei, dicht gefolgt von einem Dartiri und der Windstoß zerzauste ihr Haar. Mit einem starken Sandwirbel vergrub ein Taubsi mehrere Prunusbeeren Keimlinge und als ein anderes Taubsi Flügelschlag einsetzte, segelten mehrere Blätter und Beeren eines Amrenabeeren Strauches zu Boden. Eine Maronbeere fiel  einem der braunen Flug Pokemon auf den Kopf, nachdem ein Dartiri versehentlich das kleine Bäumchen tackelte. Das Taubsi taumelte zurück, zermatschte mehrere auf dem Boden verstreute Beeren und zermalmte ein junges Sinelbeeren Sträuchlein, dessen dünne Zweige knirschend zerbrachen.  Verärgert verzog Amelie ihr Gesicht, schob zwei  Finger in den Mund und ließ einen gellenden Pfiff ertönen. Mehrere der Vogel Pokemon stoben auseinander, aber nicht alle flogen davon. Doch kurz darauf konnte das Mädchen zwischen den Beerensträuchern das kupferfarbene Fell  eines Vulpix ausmachen, welches knurrend auch die restlichen Pokemon verscheuchte. Seufzend ließ das Mädchen sich wieder in ihr Bett fallen und starrte an die Decke. Als würden die hiesigen Scoppel nicht schon genug Ärger anrichten, indem sie Löcher gruben und Wurzeln anknabberten. In Gedanken versunken, lauschte Amelie dem immer leiser werdendem schimpfen von draußen, als ein „Vulpix!“ sie wieder hochfahren ließ. Erneut richtete sie sich auf und lehnte sich weit aus dem Fenster. Das kleine Fuchs Pokemon, stand auf den Hinterbeinen und sah zu ihr hoch, eine große Lilie im Maul. Trotz Amelies Ärgers über die Flug Pokemon, musste sie unwillkürlich grinsen. Es war einfach zu lieb. „Vul-Vulpix!“ rief es, was wohl ‚Alles Gute zum Geburtstag!‘ heißen sollte. Ja, so fing ein Geburtstag gut an. „Danke.“ Flüsterte Amelie leise und wusste das Vulpix sie hören würde. Es gab ein schnurrendes Geräusch von sich, machte einen Hüpfer und rannte zum Vordereingang des Hauses. Sofort lief Amelie zur ihrer Zimmertür und öffnete sie, hielt dann jedoch inne und schnupperte. Sie konnte keinen Kuchenduft wahrnehmen, obwohl ihre Eltern stets versuchten ihr schöne Geburtstage zu bereiten, auch wenn sie wenig Geld hatten und ihr nicht alle Wünsche erfüllen konnten. Sicherlich wären sie verärgert wenn sie schon unten war, bevor Kuchen, Geschenke und Deko auf dem Tisch standen. Sie schürzte die Lippen und schloss die Tür wieder leise. Dann kehrte sie zum Fenster zurück, doch sie konnte Vulpix nicht sehen. Bestimmt würde es die Blume auf den kleinen Beistelltisch neben dem Eingang ablegen und fröhlich davonrennen, wenn sie nach einer Weile nicht kam. Es liebte es schließlich zu laufen und genoss es zwischen den Beerensträuchern herumzurennen und Scoppel, Puponchos oder eben Dartiris und Taubsis zu vertreiben. Und sie und ihre Familie waren dem Feuer Pokemon dankbar dafür, denn sie brauchten jede Beere um alles zu bezahlen. Mit einem Seufzer zog das Mädchen sich um und schlich dann ins Bad. Nachdem sie sich frisch gemacht hatte, kehrte sie in ihr Zimmer zurück und ließ sich mit einem Seufzer auf dem Bett nieder. Ungeduldig tippte sie mit den Füßen auf dem Boden herum und summte eine einfache Melodie, während sie sich mit grimmigem Gesichtsausdruck in ihrem Zimmer umsah. Es war nicht hässlich, aber auch nicht hübsch und es hatte sich Zeit ihres Lebens, rein gar nichts darin verändert, weshalb es sie einfach langweilte. Etwas Neues wäre einfach zu teuer gewesen, das hatten ihre Eltern auch bedacht und das Zimmer bei ihrer Geburt in neutralen Farben eingerichtet – weiß und beige. Sie hatte alles was sie brauchte: Ein Bett, einen Schrank, ein Bücherregal und einen großen Schreibtisch auf dem sich mehrere Hefter stapelten. Unter ihrem Bett, lagerten mehrere Bücher über Pokemon, von denen ihre Eltern nichts wussten. Sie bezahlten viel Geld um sie auf eine anständige Schule zu schicken, nur leider  interessierte sie sich mehr für Pokemon, als für die Dinge die sie in der Schule lernen musste. Um Pokemon ging es da nur nebensächlich, da ihre Eltern wollten, dass sie später einen Beruf ergriff, der nicht allzu stark von den Wesen abhängig war, wie beispielsweise Notarin. Auf Reise gehen würde sie demzufolge auch nie. Aber was brachte es ihr rechnerisch ermitteln zu können wie viel Kraft benötigt wurde um einen Stein zu verschieben, wenn ein Machomei mit der Attacke Stärke das Problem mit Leichtigkeit lösen konnte? Weshalb musste sie die ganze Kalos Region im Kopf haben, mit jedem kleinsten Gebirge und Bächlein wenn sie sie sowieso nie bereisen würde? Warum hatte sie eine Stunde Glaziologie in der Woche obwohl sie weder Schnee noch Eis jemals sehen würde? Wehmütig schritt sie zu ihrem Schreibtisch und betrachtete ein paar Bilder und Postkarten die über dem Tisch an einer Pinnwand hingen. Die meisten waren von Schulfreunden, die sich Reisen leisten konnten. Selbst wenn Amelies Familie genug Geld gehabt hätte, hätten sie die Farm niemals auch nur über ein Wochenende allein lassen können. Einige Bilder zeigten auch Menschen in hübschen Anzügen oder langen Kleidern, die mit strahlendem Gesicht Wettbewerbsbänder in die Höhe hielten und dem Millionen Publikum winkten. Jetzt aber betrachtete Amelie nur die Postkarten. Ein brünettes Mädchen vor den Wasserfällen Mosaias und ein schlaksiger Junge vor einem riesigen Schloss. Ein sich umarmendes Pärchen auf einer Bank mit der leuchtenden Metropole IluminaCity im Rücken und, ihre absolute Lieblingskarte: ein riesiges Mamutel  in glitzerndem Schnee. Zu gern würde sie selbst echte Eiskristalle und echte Eisblumen an den Fensterscheiben sehen. Nicht die Künstlichen,  die sich so mancher Nachbar im Winter an die Fensterscheiben sprühte, sondern echte.  Zu gerne wollte sie kalten Schnee in ihren Händen spüren und sehen wie Eiszapfen an den Ästen der Bäume wuchsen. Aber in Escissia schneite es nie. Und es würde in Escissia auch niemals schneien. Aber vielleicht…..sie war recht gut in der Schule, wenn sie später viel verdiente, konnte sie sicher durch Kalos reisen. Ach was, sie könnte die ganze Welt bereisen! Das Mädchen lächelte aufgrund dieser Vorstellung, verzog das Gesicht aber kurz darauf wieder. Das dauerte noch lange. Sehr, sehr lange. Langsam ging Amelie wieder zu ihrer Tür und öffnete sie. Unten lief die Kaffeemaschine und ein bitterer Geruch stieg leicht in ihre Nase. Sie biss sich auf die Lippen. Es war noch zu früh, aber länger konnte sie nicht mehr warten. Also lief sie die Treppe hinab und lief beinahe  in ihre Mutter, die gerade mehrere Kerzen ins Wohnzimmer trug. „Du bist zu früh.“ Bemerkte sie mit einem kurzen Blick. „Draußen war viel los.“ Erwiderte Amelie und folgte ihr in den anderen Raum. Bunte Schlangen lagen auf der Kommode und hingen an der Lampe. Sie war schon längst zu alt für so etwas, nun 15, aber trotzdem musste sie grinsen.  Den Tisch zierte ein großer Blumenstrauß mit orangenen Blumen und weißen Rosen. Daneben stand ein großer Sinelbeeren Kuchen. Wie hatte sie den nicht riechen können? Nun da er vor ihr stand, war der köstliche Duft so intensiv, dass sie ihn am liebsten sofort aufgegessen hätte.  „Du hättest warten können.“ Die Stimme ihrer Mutter war anklagend. „Es war langweilig.“ Das Mädchen öffnete eine Kommode und reichte ihrer Mutter ein Feuerzeug, welches diese dankend annahm. „Wenn dein Vater kommt, warst du die ganze Zeit brav oben, klar?“ Amelie musste schmunzeln „Natürlich.“ Damit verschwand ihre Mutter wieder und Amelie lief in den Flur und öffnete die Haustür. Sie sah sich draußen um und entdeckte Vulpix, welches nicht wie erwartet davongerannt war, sondern auf dem Beistelltisch saß und aufs Feld hinaus starrte. „Hey.“ Grinste Amelie und strich ihm über das Fell. „Vulpix.“ Antwortete es erfreut und drehte sich zu ihr um, noch immer hatte es die Blume im Mund. Amelie nahm sie ihm ab und ging in die Hocke um auf selber Höhe mit dem Pokemon zu sein. „Vielen Dank.“ Hauchte sie und umarmte das Vulpix. „Du bist meine beste Freundin!“ Vulpix gab wieder ein schnurrendes Geräusch von sich und leckte ihr über die Wange. Ihr Fell war ganz weich und warm und eine Weile rieb Amelie ihr Gesicht einfach nur an Vulpix‘ Fell, bevor sie sich wieder aufrichtete. „Willst du mit reinkommen? Es ist Sinelbeer Kuchen da.“ Sprach sie. Das Feuer Pokemon legte den Kopf schief und lugte kurz ins Innere des Hauses, bevor sein Blick wieder zurück aufs Feld schweifte. Amelie lächelte „Schon gut. Geh ruhig rumrennen.“ Vulpix gab einen fröhlichen Jauler von sich und drückte dem Mädchen kurz die Pfote in den Bauch, bevor es durch die Latten des weißen Zaunes ins Beerenfeld hetzte. Amelie sah dem rotbraunen Fellball hinterher, als eine Hand ihr auf die Schulter fasste. Sie drehte sich um und sah in das grinsende Gesicht ihres Vaters. „Wenn ich möchte, dass du mir auf dem Feld hilfst, stehst du nie so früh auf.“ Beschwerte er sich und zog seine Tochter zurück ins Haus. „Du bist auch nie so laut wie aggressive Flug Pokemon.“ Antwortete Amelie und ließ sich von ihrem Vater auf einen Stuhl drücken.  Ihr Vater seufzte und ließ sich ihr gegenüber nieder während sie Vulpix‘ Lilie in die Vase zu den anderen Blumen steckte. „Und auch nicht so zerstörerisch. Langsam werden die wirklich anstrengend und oh Gott dieser Kuchen, rawr!“ Amelie musste lachen und nun kam auch ihre Mutter, drückte ihrem Mann einen Kuss auf die Wange und setzte sich neben ihre Tochter. Sie drückte ihre Hand, während ihr Vater die Kerzen anzündete. „Jetzt blas sie schnell aus, damit sie an meinem Geburtstag schön lange brennen können.“ Witzelte er und griff bereits nach dem Kuchenmesser. Das schwarzhaarige Mädchen beugte sich vor und pustete alle auf einmal aus. Sofort nahm ihre Mutter die Kerzen an sich und ihr Vater schnitt den Kuchen an. Ein extra großes Stück, lud er Amelie auf den Teller die ihn in atemberaubender Geschwindigkeit verschlungen hatte. „Geschenke.“ Meinte sie aufgeregt und ihre Eltern grinsten breit. „Sobald wir fertig sind.“ Beschwichtigte sie ihr Vater und aß provokativ langsamer. „Soll ich dir helfen?“ Schlagartig verschnellerte sich sein Ess - Tempo und erneut musste Amelie lachen. Kurz darauf waren alle fertig mit Kuchen essen und das Geburtstagskind rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Ihr Vater stand auf, ging zum Schrank und holte aus dem obersten Fach einen schwarzen Rucksack hervor. „Wa-„ begann Amelies Mutter aber ihr Mann beschwichtigte mit der Geste seiner Hand. Ihr Vater stellte den Rucksack vor Amelie auf den Tisch und diese stand auf um besser in ihn hineinsehen zu können. Sie warf ihrem Vater einen verunsicherten Blick zu, der ihr jedoch auffordernd zunickte. Mit zittrigen Fingern öffnete sie den Reißverschluss. Ein blaues Bündel lag in dem Rucksack. Sie nahm es heraus und faltete es auseinander, wobei ein glänzender Pokeball herausfiel. Ihre Mutter schnappte nach Luft. „Was soll das?“ schrie sie ihren Mann an und ihre Augen funkelten böse. Amelie betrachtete schwer atmend den blauen Stoff in ihren Händen. Es war ein wunderschönes Wettbewerbskleid mit weißem Gürtel und einem weißen Kragen. „Sie ist alt genug. Außerdem hat sie nur gute Noten und es wird Zeit, dass sie praktische Erfahrungen sammelt!“ Wie hypnotisiert griff Amelie nach dem Pokeball. „Was hast du dir dabei gedacht? Du hättest es mir sagen müssen!“ Amelie betrachtete ihre Eltern sie sich anfauchten ohne ihr Beachtung zu schenken.  Erstaunen, Freude, Aufregung, vielleicht auch ein Stück weit Angst….All das war nur ein Teil der Gefühle die sie in diesem Moment ergriffen hatten. Sie konnte kaum klar denken, nur in Zeitlupe bückte sie sich um den roten Pokeball aufzuheben. Es war als hätte sich eine dichte Wolke um ihr Gehirn gebildet und so betrachtete sie sich selbst in der spiegelnden Oberfläche des Balles. „Vulpix!“  Es war als würde Amelie aus einem Traum erwachen. Vulpix hatte den Lärm gehört und kratzte nun gegen die Tür. Sie blinzelte mehrmals und rollte das blaue Kleid zusammen. „Du wärst dagegen gewesen! Du hättest sie für immer hier festgehalten!“   Blitzschnell stopfte sie es in den Rucksack, warf ihn sich über die Schulter und wandte sich zur Tür als jemand sie am Arm festhielt. Ihre Mutter packte sie an den Schultern und schüttelte sie leicht „Es ist nicht für alle ein Spiel Amelie!“ Tränen standen in den Augen ihrer Mutter und Amelie konnte ihr nur vollkommen entsetzt entgegenblicken. „Sie sind nicht unsterblich, hörst du? Hörst du Amelie?“  Noch immer konnte Amelie sich nicht rühren, nichts sagen, nur die Perlen anstarren die an den Wangen ihrer Mutter hinabliefen. „Nicht alle sind so unvorsichtig wie du!“ mischte sich ihr Vater wütend mit ein und Amelie konnte sehen wie sehr diese Worte ihre Mutter verletzten. Nun selbst beinahe am weinen, riss sie sich los und preschte aus der Tür hinaus. Beinahe hätte der Schwung der Tür Vulpix getroffen, welches nur knapp auswich. Amelie achtete nicht sehr darauf, rannte einfach davon. Ohne sich umzublicken, rannte sie den sandigen Weg entlang. Erst als ihr Atem keuchend ging, bemerkte sie Vulpix neben sich. Es schien kam angestrengt, obwohl sie schon ziemlich viel Weg hinter sich gebracht hatten. Es musterte Amelie mit seinen braunen Augen besorgt und immer wieder huschte sein Blick zu ihrer Hand. Das Mädchen folgte dem Blick ihrer Freundin. „Pokeball…“ murmelte sie leise und strich mit dem Daumen über die glatte Fläche wobei sie den Knopf in der Mitte drückte. Der Ball klappte auf, Vulpix wurde in blaues Licht gehüllt, verschwand und der Ball klappte wieder zu. Amelie hatte alles über den Pokeball in der Schule gelernt. Seine Arten, seine Geschichte, die Technik die dahintersteckte. Doch ihr wirklich zu benutzen war etwas ganz anderes. Sie starrte den Ball verwundert an – und rannte gegen eine Straßenlaterne.